Sharon Livermore
Etwas langsamer, bitte! Eine einfache Möglichkeit, wie wir Wale schützen und die Klimakrise bekämpfen können
Etwas langsamer, bitte! Eine einfache Möglichkeit, wie wir Wale schützen und die Klimakrise bekämpfen können
Stellen Sie sich vor, Sie stehen mitten auf einer belebten Straße während der Rushhour. Vielleicht sind Sie in Manhattan oder im Zentrum von Berlin, London, Tokio oder Johannesburg. Sie versuchen, Ihre Freundin zu finden, doch der Lärm um Sie herum macht es unmöglich. Autos hupen. Motoren heulen auf. Bremsen quietschen.
Den Namen Ihrer Freundin zu rufen, hilft nicht, denn Ihre Stimme kann mit dem Straßenlärm um Sie herum nicht mithalten Also nutzen Sie Ihr Handy. Doch der Lärm um Ihre Freundin herum ist so laut, dass sie nicht einmal ihr Telefon klingeln hört. Vielleicht spürt sie das Vibrieren, aber wenn sie abnimmt, kann sie Sie bei dem lärmenden Verkehr nicht verstehen. Am Ende schreien Sie beide in Ihre Telefone, verwirrt, gestresst und zunehmend frustriert.
Schließlich sehen Sie sich endlich, doch jetzt müssen Sie erst einmal die Straße überqueren, ohne von einem Auto oder einem Lastwagen überfahren zu werden.
Dieses Szenario kommt dem nahe, was Meerestiere erleben, wenn sie sich durch stark befahrene Schifffahrtswege bewegen. Tiere aller Art – von Korallen bis hin zu Walen – leiden unter dem nicht enden wollenden Lärm von Schiffsschrauben und Motoren. Diejenigen, die an die Wasseroberfläche kommen müssen, um zu atmen, sind zusätzlich der ständigen Gefahr ausgesetzt, mit einem Schiff zu kollidieren und schwer verletzt oder sogar getötet zu werden.
Das Problem ist so gravierend, dass es für einige gefährdete Arten – wie z.B. dem Nordatlantischen Glattwal – zum Aussterben führen könnte.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass es eine Lösung gibt, die sich nicht nur auf die Meeresbewohner sofort und spürbar positiv auswirken würde, sondern auch auf die Schifffahrtsindustrie: die Verlangsamung der Schiffsgeschwindigkeit.
Wie wirkt sich der Unterwasserlärm auf Tiere aus?
Lärm breitet sich unter Wasser schneller und weiter aus, als in Luft. Der Frequenzbereich der von Schiffen erzeugten Geräusche überschneidet sich mit den von Walen und anderen Meeresbewohnern erzeugten Frequenzen. Dadurch entsteht ein ständiger Lärmteppich, der die Fähigkeit dieser Tiere beeinträchtigt, zu kommunizieren, sich fortzupflanzen, Nahrung zu finden, Raubtiere zu meiden und ihren natürlichen Migrationsrouten zu folgen.
Das verändert ihr Verhalten grundlegend. Der Lärm kann die Tiere verwirren und dazu führen, dass sie ihren Lebensraum verlassen, stranden, sich in Flüsse verirren oder sogar die falschen Dinge fressen. In der BBC-Radiosendung The Essay beschreibt Steve Simpson, Professor für Meeresbiologie, eine Studie, bei der sein Team Krabben Schiffsgeräusche vorspielte. „Wir haben kleine Stücke zerkleinerter Muscheln in den Tank gegeben, aber auch zerkleinerte Gummibänder“, erklärt er. „Wir haben festgestellt, dass die Krabben, wenn sie sich in einer lauten Umgebung befinden, anfangen, Gummibänder aufzusammeln. Sie treffen nicht wirklich die richtigen Entscheidungen.“
Ist es Tieren nicht möglich, effektiv zu kommunizieren oder müssen sie lauter sein, um gehört zu werden, hat das auch enorme Auswirkungen auf ihren Stresspegel.
Wir wissen dies aufgrund einer bahnbrechenden Studie von Rosalind Rolland, Emeritus Senior Scientist am New England Aquarium in Boston. Dr. Rolland und ihr Team waren am 11. September 2001 in der Bay of Fundy, Kanada, auf See. Sie führten allgemeine Untersuchungen durch, um herauszufinden, warum sich die Nordatlantischen Glattwale nicht fortpflanzten. Doch als der Schiffsverkehr entlang der Ostküste Nordamerikas nach den tragischen Terroranschlägen zum Stillstand kam, machten Dr. Rolland und ihr Team eine unerwartete Entdeckung. Als der Unterwasserlärm um sechs Dezibel abnahm, konnte ein damit korrespondierender Rückgang von Stresshormonen im Kot der Wale festgestellt werden.
Schlechte Kommunikation kann sich auch auf die Fähigkeit der Tiere auswirken, sich fortzupflanzen. Führt der Lärm dazu, dass Meeresbewohner keinen potenziellen Partner finden können, ist das ein großes Problem – vor allem für gefährdete Arten, deren Fortpflanzungsrate ohnehin gering ist. In den letzten 80 Jahren ist zum Beispiel die Entfernung, über die Blauwale miteinander kommunizieren können, von über 1.600 Kilometern auf heute nur noch rund 160 Kilometer geschrumpft.
Das kann einen großen Unterschied fürs Überleben einer Art ausmachen.
Wie wirkt sich die Schiffsgeschwindigkeit auf das Leben im Meer aus?
Die Anzahl von Schiffen und deren Geschwindigkeit steht in direktem Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Kollision mit einem Wal.
Überall dort, wo sich ein hohes Aufkommen an Schiffsverkehr mit einer großen Anzahl von Walen überschneidet, ist die Wahrscheinlichkeit einer Kollision mit einem Wal sehr hoch.
Man könnte meinen, dass es für Seeleute einfach wäre, einem Wal auszuweichen. Immerhin sind manche Wale bis zu 20 Meter lang. Doch, wenn man bedenkt, dass die Schiffe auf denen Seeleute heutzutage arbeiten, nicht selten 300 Meter lang sind, verblasst die Größe der Wale schnell zur Bedeutungslosigkeit.
Daher bleiben Schiffskollisionen oft unbemerkt. In letzter Zeit gab es einige grausige Geschichten von Schiffen, die mit toten Walen am Bug in Häfen einliefen. Erst dort bemerkten die Seeleute, dass sie einen Wal angefahren hatten.
Manchmal werden Kadaver von Walen an Land gespült, was uns eine Vorstellung davon gibt, wie viele Wale von Schiffen angefahren werden. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Experten schätzen, dass für jedes gefundene Tier, dass durch eine Kollision starb, etwa 20 weitere getötete Tiere nicht gefunden werden.
Was ist die Lösung?
Es gibt bestimmte Gebiete im Ozean, von denen wir wissen, dass es dort viele Wale gibt. In diesen Gebieten haben wir mit Reedereien und Regierungen zusammengearbeitet, um die Schifffahrtsrouten umzuleiten.
So haben wir zum Beispiel einige Unternehmen dazu gebracht, ein Gebiet in der Nähe von Sri Lanka zu meiden, in dem sich ein Großteil der Blauwale des nördlichen Indischen Ozeans aufhält. Auch hat unter anderem eine der größten Reedereien der Welt, MSC, ihre Routen geändert, um die bedrohten Pottwale im Hellenischen Graben vor der Küste Griechenlands zu schützen.
Doch die globale Verteilung von Walen ist nicht vorhersehbar. Sie können sich überall aufhalten, daher brauchen wir einen ganzheitlichen Ansatz, der die Wale überall dort schützt, wo sie sich aufhalten. Aus diesem Grund fordert die IFAW-Kampagne „Blue Speeds“ eine geringfügige Verringerung der Schiffsgeschwindigkeiten.
Untersuchungen haben ergeben, dass eine Verringerung der Schiffsgeschwindigkeit in der weltweiten Flotte um rund 10% das Risiko einer Schiffkollision mit Walen um 50% und den Unterwasserlärm um 40% reduzieren würde.
Auf unserer Blue-Speeds-Website können Sie hören, wie sich die Reduzierung des Unterwasserlärms anhört. Das ist ein enormer Unterschied, vor allem für sehr gefährdete Populationen, bei denen jedes Tier für das Überleben der Art wichtig sein kann.
Das Gute am Unterwasserlärm im Vergleich zu anderen Schadstoffen ist, dass sobald der Lärm endet, auch die Verschmutzung endet. Es ist nicht wie bei einer Ölkatastrophe, bei der man im Nachhinein eine riesige Säuberungsaktion durchführen muss.
Die Verlangsamung von Schiffsgeschwindigkeiten hat eine unmittelbare, konkrete Wirkung.
Inwiefern kommt eine Geschwindigkeitsreduzierung auch den Reedereien zugute?
Der Seeverkehr ist für 3% der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) veröffentlichte 2015 eine Studie, die besagt, dass dieses Problem nur noch schlimmer werden wird, wenn es nicht angegangen wird. Generalsekretär Koji Sekimizu sagte voraus, dass „die CO2-Emissionen des internationalen Seeverkehrs bis 2050 um 50% bis 250% steigen könnten, je nach künftigem Wirtschaftswachstum und den Entwicklungen auf dem Energiemarkt. Wenn es uns also gelingen soll, die Energieeffizienz des Sektors, der bereits heute der energieeffizienteste Massentransport von Gütern ist, weiter zu verbessern, muss die internationale Gemeinschaft realistische und pragmatische Lösungen anbieten, sowohl in technischer als auch in politischer Hinsicht".
Die Verringerung der Schiffsgeschwindigkeit ist eine dieser realistischen und pragmatischen Lösungen, denn wenn man langsamer fährt, verbraucht man in der Regel auch weniger Kraftstoff. Dies ist eine Möglichkeit für die Schifffahrtsunternehmen, die strengen neuen Zielvorgaben zu erfüllen, die kürzlich von der IMO festgelegt wurden und die es den Schiffen vorschreiben, ihre Energieeffizienz zu verbessern und ihre Emissionen zu verringern.
Die Schifffahrtsbranche passt ihre Geschwindigkeiten regelmäßig an, um Geld zu sparen, wenn die Treibstoffpreise steigen. Wir fordern lediglich, dass diese Reduzierungen zur Norm werden.
Welche Rolle können Regierungen und Unterstützer:innen spielen?
Viele Schifffahrtsunternehmen sehen die Vorteile einer Verlangsamung oder geringfügigen Änderung ihrer Routen, um den Schutz gefährdeter Arten zu unterstützen. Sie haben sich freiwillig zu diesen Änderungen bereit erklärt.
Doch wir brauchen Regierungen und Regulierungsbehörden, um diese Änderungen zu verankern.
Die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der Europäischen Union ist ein gutes Beispiel dafür. Die EU ist das fortschrittlichste Staatenbündnis, wenn es um Unterwasserlärm geht. Deshalb beginnt die IFAW-Kampagne Blue Speeds in Europa, doch wir fordern die Verantwortlichen auf der ganzen Welt auf, dieses Thema ernst zu nehmen, bevor noch mehr unserer wertvollen Meeresbewohner den Kampf gegen das Aussterben verlieren.
Helfen Sie uns, den Ozean für die Wale sicherer und ruhiger zu machen.
Ähnliche Inhalte
Mit großer Unterstützung können wir Großes leisten. Bitte spenden Sie, um Tieren zu helfen.